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Autor: Ulrich Raulff

(aus: FAZ vom 24. August 2000, Seite 47)

Zur Moral der Genealogie

Alle Namen aller Toten: Im Internet entsteht das größte Ahnenforschungsarchiv der Welt

Als vor einem Jahr die Weltbevölkerung die Marke von sechs Milliarden überschritt, lief eine geisterhafte Rechnung durch die Medien. Die Zahl der gegenwärtig Lebenden, so hieß es, habe dank dem rasanten Wachstum der Menschheit endgültig die Zahl der Toten: aller Toten aller Zeiten überschritten. Ohne sich in die Schwierigkeiten der Archäostatistik zu vertiefen, zeigten sich die meisten Zeitgenossen, von notorischen Geschichtsskeptikern abgesehen, geneigt, die Aussage hinzunehmen: Bestätigte sie nicht die kulturpessimistischen Thesen über den Präsentismus unserer Zivilisation, die den Toten keinen Platz mehr läßt und ihr Andenken aktuelleren Bedürfnissen geopfert hat? Jahrtausendelang hat die Menschheit in engstem Verkehr, in Gesprächs- und Tischgemeinschaften mit ihren Toten gelebt – bis die Moderne nach einem letzten Aufflackern des politischen Totenkults endgültig den Zeitpfeil in Richtung Gegenwart und Zukunft drehte, weg von der Genealogie und hin zur Generation. Seitdem sind die Ahnen- und der Totenkult Relikte, die die vitale, demographisch explodierende Menschheit am historischen Straßenrand zurückgelassen hat.

Soweit das gängige Stereotyp. Ein Blick ins gegenwärtigste aller Medien belehrt einen eines Besseren. Das Internet ist – neben allem, was es sonst noch ist und tut – ein riesiges Gräberfeld und ein gigantisches Archiv der Ahnenforschung. Welche frühere Gesellschaft hat sich derart intensiv der Pflege des Totenreichs angenommen? In seinem jüngsten Roman hat der portugiesische Nobelpreisträger José Sarmago ein gespenstisches Archiv entworfen, dessen Angestellte Tag und Nacht damit beschäftigt sind, die Akten der Verstorbenen aus dem Archiv der Lebenden in das der Toten zu schaffen, und zu diesem Zweck gezwungen sind, das letztere beständig umzubauen und zu erweitern. „Alle Namen“ handelt von dem Phantasma des Historikers und Antiquars, die Namen aller Toten zu kennen – ein Phantasma, das in aktuellen Denkmalsentwürfen für die Opfer der Weltkriege und Genozide wiederkehrt und offenbar nicht mit den romantischen Historikern des neunzehnten Jahrhunderts ins Grab gesunken ist. Denn es gibt das Weltarchiv der Toten, zumindest virtuell und tendenziell, tatsächlich: Die Kirche der Mormonen ist dabei, es peu à peu ins Netz zu stellen.

Seit mehr als hundert Jahren sammeln die Mormonen personenbezogene Daten in allen sich ihnen öffnenden Archiven und Registern. Ihr Ziel ist es, der Welt vollständigstes Archiv von Zivilstandsakten aufzubauen und so Auskunft geben zu können über alle Menschen, die je gelebt haben – sofern nur eine Spur, eine Notiz von ihnen blieb. Die Mikrofilme der Akten lagern erdbeben- und atombombensicher in einem tief in den Felsen von Little Cottonwood Canyon gesprengten Bunker im Staat Utah. Drei Milliarden Namen behaupten die Mormonen bisher aufgespürt zu haben, vierhundert Millionen davon haben sie kürzlich im Internet (www.familysearch.org) zugänglich gemacht, weitere zweihundert Millionen sollen demnächst folgen. Alle Namen: ein Traum von Borges wird Wirklichkeit.

Nachdem diese Website der Kirche der Heiligen der Letzten Tage vor knapp einem Jahr aufgemacht worden war, setzte eine massenhafte Nachfrage ein, die binnen kurzem alle Server zusammenbrechen ließ. Zu gewissen Spitzenzeiten im Mai diesen Jahres, ließ die Betreiberfirma wissen, hätten fünfzig Millionen Benutzer pro Stunde zugreifen wollen. Dabei ist die Website der Mormonen keineswegs die einzige ihrer Art: Nach Sex dürfte Genealogie der größte Markt im Internet sein. Dutzende von nationalen Homepages offerieren weltweit ihre Dienste beim Aufspüren von Ahnen, auf daß jedermann für sich die Wurzeln Jesse ziehen kann. Aber alle „links“ führen über kurz oder lang zu den Seiten der Mormonen, eindeutigen Marktführern auf dem Gebiet des digitalen Totenkults.

Ihr Sammeleifer erklärt sich aus gewissen Elementen ihres Dogmas. Für die Mormonen steht, auch nachdem sie 1890 die Polygamie abschafften, die Familie im Mittelpunkt der religiösen Bemühung. Und um die Heilschancen auch der Verstorbenen zu verbessern, suchen sowohl die einzelnen Gemeinden wie die Kirche, Proselyten im Totenreich zu machen. Dem dient das Institut der Totentaufe: Im Unterschied zu anderen Kirchen und Sekten missionieren die Mormonen nicht nur prospektiv, sondern auch retrospektiv. Verbunden mit der – individuell, aber auch kollektiv vollzogenen – Totentaufe dient ihr genealogisches Projekt der Missionierung des Totenreichs. Es soll ein historisches Paradox beseitigen: daß man nur den auf einen neuen Namen taufen kann, den man bei seinem alten kennt.

Seit kurzem bahnt sich Streit an zwischen dem französischen Staat und den Gläubigen aus Utah. Schuld daran ist aber nicht die immer wieder beargwöhnte Totentaufe, sondern der Gang ins Internet. Der 1987, in technologisch grauer Vorzeit, geschlossene Vertrag zwischen den französischen Archiven und der Kirche der Mormonen, der dieser gegen Abgabe von jeweils zwei Filmkopien erlaubte, alle Personenstandsakten der Départements abzulichten, sei durch die Publikation der Daten im Internet gebrochen, heißt es aus dem französischen Kulturministerium. Der Datenschutz sei nicht mehr gewährt, wenn nicht allein seriöse Forscher im Bunker von Salt Lake City, sondern weltweit jedermann auf eigene Faust und in gänzlich unbekannter Absicht Ahnenforschung betreiben könne.

Nicht zufällig erinnert das maßlose Unternehmen von Archivaren, die im Dienst einer Kirche die Namen aller Toten sammeln und in einer genealogischen Datenbank publizieren, an die Entzifferung des menschlichen Genoms durch Biologen und Computertechniker: Der Wille zum Wissen macht vor den Bausteinen des Lebens sowenig Halt wie vor den Grabsteinen der Geschichte. Aber zwischen den beiden megalomanen Großprojekten besteht mehr als eine emblematische Analogie. Schon warnen die französischen Datenschützer davor, daß die zusammengetragenen historischen Zivilstandsdaten demnächst zur medizinhistorischen und genetischen Auswertung herangezogen werden könnten. Wird man dann die genealogischen Akten elektronisch durchwühlen, um pathologische Familienromane und individuelle Belastungsprofile zu erstellen? Auch amerikanische Experten prognostizieren schon den Einzug der Genetik in die Genealogie und die Wiederkehr des Ahnenpasses mit Hilfe der Computertechnik. „Wir sind ins Zeitalter der Genealogie eingetreten“, schrieb Gottfried Benn um 1950. An seinem Eingang stehen die Mormonen. Und zählen.