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Wissen und Tabus in der Familiengeschichte

Hans-Peter Wessel, 1998

 

Verhältnismäßig leicht und unverfänglich ist es, mit traditioneller Genealogie den Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu erfüllen. Die rein biologisch orientierte Abstammungsforschung oder die Nachkommenforschung ist bei zuverlässiger Erfassung und Darstellung aller Personenhauptdaten für sozial-historische Untersuchungen als "Hilfswissenschaft" willkommen. Zum Beispiel sind aus Genealogien abgeleitete Alters-, Standes- oder Wanderungsstatistiken repräsentativ nutzbar. Nur bei der Ursprungsforschung am Ende der Ahnenwurzeln sind Hypothesen erlaubt.

Ohne Frage: Schon das Streben nach der genealogischen, in die Breite der Generationen gehenden Vollständigkeit, oder nach der Evidenz einer in die Tiefe gehenden Mannesstamm-Filiation kann den Sammeltrieb eines Genealogen anspornen und bei Erfolg zufriedenstellen. Die vielfach in den Periodica veröffentlichten oder auch nur in den Forscher-Schubladen liegenden Arbeiten dieser Art sind wohl mehrheitlich wissenschaftlich im besten Sinne, wenn jede einzelne Angabe darin nach den immer noch gültigen Regeln des Altmeisters der Genealogie, Professor Johann Christoph Gatterer, belegbar ist.1

Allerdings wirken die langen Folgen von Namen, Orten und Datumsangaben zumindest auf den genealogisch Außenstehenden ziemlich leblos. Mir geht es jedenfalls beim Lesen fremder Genealogien so. Selbst wenn die Datenmenge in Erzähl-Prosa als eine Art Minimal-Familiengeschichte umgesetzt ist, wirkt sie nicht interessanter. Verschlimmert wird eine solche Darstellung im wissenschaftlichen Sinn, wenn dann noch Floskel-Interpretationen von "aufstrebenden Geschlechtern", "bedeutenden Persönlichkeiten" und "ehrbaren Familien" nach nicht definierten, beliebigen Maßstäben eingefügt werden.

Viele Genealogen, die mit dem etwas trockenen Zustand ihrer Forschungsergebnisse nicht zufrieden sind, betreiben deshalb die ergänzende Familiengeschichtsforschung. Sie schöpfen dazu möglichst viele primäre Archivquellen oder wenigstens ortsgeschichtliche Sekundärquellen aus, um etwas über die weiteren Lebensumstände der Ahnen zu erfahren. Zwar geben auch Kirchenbücher punktuell Personen- oder Familieninternas preis, aber die übrigen Dokumente eines kirchlichen Archivs, wie z.B. Visitationsprotokolle, Armenrechnungsbücher, Kapitalienbücher usw. können die eigentlichen Wissens-Fundgruben sein. Dasselbe gilt natürlich für die Akten weltlicher Archive von adeligen Herrschaften, von Städten, Kreisen und Ländern. Es können einfache Steuer- bzw. Abgabenlisten, Schuld- und Pfandprotokolle (Gerichtsbücher), Vormundschaftsprotokolle, Militärakten oder Prozessakten sein, die wenigstens Momenteindrücke aus dem Leben der Vorfahren vermitteln. Diese punktuellen Informationen können auf den forschenden Nachkommen positiv oder negativ wirken. Sie stellen spätestens bei der schriftlichen Abfassung der Familiengeschichte oder einer Teilbiographie die historische Objektivität des Chronisten auf die Probe.

Wie steht es also um die Wissenschaftlichkeit bei der Darstellung des gewissermaßen weiteren Feldes einer aus Primärquellen erforschten Familiengeschichte oder derjenigen einer besonderen Personengeschichte? Denn: Die "Bedeutung und Hochachtbarkeit"2 eines Ahnen könnten sich auf die banale Tatsache ererbten und rechtschaffen erhaltenen Besitzes bzw. Privilegien reduzieren; das heißt, daß der betreffende Ahne keine richtungsweisende Bedeutung für einen größeren Personenkreis außerhalb der Sichtweite der Kirchturmspitze oder außerhalb des Bannkreises der Zunftlade gehabt hätte. Oder die gerühmte "Tatkraft"3 anderer Vorfahren könnte sich auch als Hang zu Totschlag und Ehebruch entpuppen. Auch die angeblich nicht weiter erforschbare Herkunft eines Ahnen könnte sich in Wirklichkeit als uneheliche Geburt herausstellen, deren "Schande" sogar noch den emanzipierten Nachkommen peinlich ist.

In einer kürzlich veröffentlichten Personengeschichte mit vorbildlicher Offenheit zur letztgenannten Thematik der Unehelichkeit bringt ein Nebensatz die Zeitfrage einer "Enthüllung" treffend ins Spiel: :"XY war ein uneheliches Kind, was zu seinen Lebzeiten naturgemäß nirgends gesagt wurde....." 4 In diesem Fall gab es offenbar gegenüber einer laut Personengeschichte bekannten und geachteten Persönlichkeit zu dessen Lebzeit ein selbstverständliches Taktgefühl, den Umstand seiner "unehrlicher" Herkunft zu ignorieren. Für den Verfasser der Biographie war es aber wichtig, diesen Lebensumstand zu erwähnen, da er für XY ein von vorneherein zu überwindendes Stigma darstellte.

Wie weit geht unsere Pietät und Taktgefühl aber gegenüber ähnlich belastenden Umständen im Leben der eigenen Vorfahren und gegenüber einzelner ihrer in den Akten entdeckten negativen Eigenschaften und Handlungen? - "De mortuis nihil ni si bene" - über die Toten nur Gutes - so wollten schon manche Römer es mit den Nachrufen und Grabinschriften halten. Viele früher, insbesondere pro domo geschriebenen Familiengeschichten oder Biographien, scheinen in diesem nachsichtigen Geist verfaßt zu sein. - Dürfen aber Familiengeschichten den wissenschaftlichen Unwert von Beerdigungsnachrufen haben?

Die frühere Tradition des Verschweigens, Umschreibens oder Beschönigens stand im Einklang mit der Art der zeitgenössischen Landes- oder Regional-Geschichtsschreibung. Schon eine der ältesten Quellen über das eigene Volk, - Tacitus "Germania" - wurde gründlich zensiert. Die alten Germanen waren demnach im wesentlichen tapfere, zu fürchtende Krieger und gelegentlich auch gesellig veranlagt. Daß sie den Trunk, Raufhändel und privates Nichtstun liebten, die Ruhe des Friedens aber gehaßt haben sollen, war für die neogermanische Nachwelt tabu. Die pflichtgemäße "Ariernachweis"-Forschung in der NS-Zeit war ebensowenig dazu angetan, irgendwelche Makel in Familiengeschichten offenzulegen, mit Ausnahme des "Nichtarischseins" oder des "Erbkrankseins" nach dem ignoranten Motto des gesunden Geistes in einem gesunden Körper. Das gewünschte Bild vom arischen Edelmenschen sollte nicht gestört werden. Eher geschah es, daß durch den Ariernachweis sehr viele Familien wieder auf ihre adeligen Vorfahren gestoßen sind, und die Genehmigung erhalten haben, das VON wieder zu führen.5 Solche Forschungsziele suggerierten wissenschaftlich abwegig die Gleichsetzung adeliger Herkunft mit edlem Familien-Charakter.

In neueren Veröffentlichungen liest man jetzt häufiger sachliche Bekenntnisse zu dunklen Stellen in der Familienhistorie. Davon einige Beispiele: Die ausführliche Prozess-Dokumentation über das Verleumdungs- und Weiderechtsvergehen eines Ahnenpaares.6 - Ein Charakterisierter ist gemütskrank und jeder geistlichen Anstellung unfähig.7 - Ein anderer mußte außer Landes fliehen, weil er aus gewissen (?) Gründen einen Obersten erstochen hatte.8 - Ein Pastor ist auf der Flucht vor den Schweden mit seiner Stieftochter auf und davon gegangen.9 - Ein Freiherr hatte niedere Gesinnung und stupende Gelehrsamkeit in sich vereinigt, er besaß eine übertriebene Neigung zum Trunk.10 Auch ein anderer Standesgenosse war dem Alkohol nicht ganz abgeneigt.- Ein Gelehrter gab sich leider seinem weiblichen Dienstpersonal und Mägden hin.11. In einer weiteren Abhandlung wird ausführlich der Fall eines jungen, trunksüchtigen Verwandten beschrieben, der nach vielen Besserungsversuchen wegen deutlicher Merkmale eines blöden Verstandes von seiner Familie in ein Zuchthaus eingewiesen werden mußte, um dort als Armer traktiert und gehalten zu werden.12 Die Beschreibung der Mühe um den jungen Angehörigen und ihre Erfolglosigkeit sind in ihrer Dokumentationstreue außerordentlich anteilnehmend zu lesen und gereichen der betreffenden Familie zur Ehre, um diesen oft mißbrauchten Begriff anzuwenden. - (Die zitierten Beispiele erfolgten in den Publikationen mit Namensnennung der betreffenden Personen bzw. Familien, worauf ich aber hier verzichte, da es nicht wesentlich für die beispielhaften Aussagen ist).

Überhaupt der Alkohol! In einer genealogischen Zeitschrift stand kürzlich der erkenntnisreiche Genealogenspruch: Der Stammbaum kann noch so schön sein, wenn man lange genug daran schüttelt, fällt irgendwo e i n Alkoholiker heraus".13 Aus bescheidener Erfahrung mit der eigenen Sippschaft füge ich hinzu: Das muß ein recht kleiner Stammbaum sein, an dem da geschüttelt wird!

Es gibt aber auch heute noch vereinzelte Beispiele der Wiedergabe bewußter Halbwahrheiten: Ein Pfarrer, der ohne weiteren Kommentar in einem Gewässer namens Bramau ertrunken ist,14 kam in Wirklichkeit gemäß der angeführten Literaturquelle abends von einer Zecherei in der Nachbarstadt berauscht zurück und ertrank bei der Überfahrt über die Bramau. Er wurde ohne Leichenpredigt still beerdigt.15 In einem Beispiel aus der jüngeren Geschichte soll ein SA-Mann nach dem Röhmputsch zur NS-Partei auf Distanz gegangen sein, z.B. daran erkennbar, daß er als einziger nicht in Uniform zu den Parteiveranstaltungen erschienen sei. Die Akten lassen jedoch erkennen, daß der Mann Probleme mit Alkohol hatte und dann wohl auch mit der Uniformdisziplin seiner auf "Zucht und Ordnung" haltenden Partei kollidierte. So kann man eine Not nachträglich zur Tugend verklären. Und wer weiß schon die wahren Ursachen für die vielen dokumentierten Unfälle erwachsener Vorfahren, für das Vom-Dachboden-Fallen, das In-Den Fluß-Fallen und neuerdings für schicksalsträchtige Verkehrsunfälle?

Zu bedenken gibt der nicht weiter begründete, lapidare Rat eines Rezensenten in der Besprechung einer familiengeschichtlichen Arbeit: Auf Bezeichnungen wie Alkoholiker sollte in Lebensbeschreibungen verzichtet oder diese Krankheit umschrieben werden.16 Wenn schon Krankheiten nicht als solche bei Namen genannt werden sollten, wie streng müßte dann erst eine Tabu-Empfehlung bei kriminellen Vergehen in Familiengeschichten beachtet werden?

Von welch schonungsloser Offenheit sind dagegen die ältesten überlieferten Familiengeschichten, die der Stämme Israels im Alten Testament!

Gegenüber Lebenden seiner Umgebung verhält man sich um des Friedens willen taktvoll bezüglich erkannter menschlicher Schwächen. Auch wird niemand selbst seine besonderen Neigungen, z.B. im privatesten Intimbereich "outen", die von gesellschaftlich vorherrschenden Gewohnheiten abweichen, denn die Toleranzgrenzen in "moralischen" Angelegenheiten sind meistens im Stellenwert sozialer Verträglichkeit unverhältnismäßig niedrig plaziert. Man meidet es, ohne Not jemandem "die Wahrheit zu sagen". Auch kommt man nicht auf die Idee, jemanden bei Dritten zu verleumden oder zu denunzieren, nur um den Betreffenden damit "bestraft" wissen zu wollen. Gegenüber jüngst Verstorbenen wahrt man die Pietät des Schweigens, wenn man schon keinen Grund zum Lobpreisen hätte.

Wann beginnt dann aber "Geschichte" mit wahrheitsgemäßer und vollständiger Berichterstattung "nach bestem Wissen"? Dürfen beispielsweise die Enkel schon sagen, daß die Großväter nicht nur auf dem ideellen Feld der Ehre gefallen sind, wie es auf den Denkmälern eingemeißelt ist, sondern daß sie auch unter schrecklichen Umständen elend umgekommen sind? Darf man feststellen, daß nicht nur die Inflation am Verlust des Familienbesitzes schuld war, sondern auch die Krankheit der Alkoholsucht? Darf man schreiben, daß alter Familienschmuck aus Ignoranz und Modernitätssucht verschleudert wurde, oder muß man taktvoll berichten: "Umständehalber wurde der Familienschmuck veräußert"? Das wäre natürlich nicht ganz falsch, ließe aber viele Fragen offen.

Besonders heikel scheint die wahrheitsgetreue Behandlung des Vorkommens von partieller oder zeitweiliger persönlicher Dummheit in der Familiengeschichte zu sein. Den harmlosen Prahlhans und Aufschneider kann man ja noch von der humorvollen Seite registrieren; wie aber wird man als Familien-Chronist einem religiös bigotten oder einem politisch fanatischen Vorfahren oder Anverwandten gerecht, der nicht nur sich selbst schadete, sondern der bei gleichzeitig "starkem Charakter" auch seine Umgebung unglücklich machte, zum Beispiel damit, in Zeiten herrschender politischer Wahnideen, eigene Angehörige gesinnungshalber zu denunzieren?

Natürlich birgt eine unbefangene, kritisch geschriebene Familiengeschichte ebenfalls das Risiko falschwertender Wortwahl in sich, denn die semantische Spanne vom gelobten "starken Charakter" über den versöhnlich gekennzeichneten "Dicknischel" bis hin zum hart beurteilten "starrsinnigen Rechthaber" ist groß. Die Verwendung mundartlicher Charakterisierungen scheint einen mildernden Effekt zu haben. Jedenfalls bedürfte es einiger Beweisbeispiele aus dem Leben eines so oder so Beschriebenen.

Mit der gemachten Aufzählung der möglichen Tabus, die ich hinter allzu glatten, schön-geschriebenen Familiengeschichten vermute, geht es mir nicht um die Empfehlung, "jüngstes Gericht" über einzelne Ahnen zu halten. Dafür wären ohnehin nicht alle zu berücksichtigenden, eventuell auch mildernden Umstände recherchierbar, die zu einem Fehlverhalten geführt haben könnten. Nein, das Brechen von Tabus soll uns selbst helfen: Die nüchterne Kenntnisnahme dunkler Stellen in der eigenen Familiengeschichte und das Wissen um die genetische Kette, deren Glied man ist, könnte ein bewußtes Aufpassen-auf-sich-selbst und eine gewisse soziale Empfindlichkeit bewirken.

Jedenfalls würden wir unserer jeweils eigenen Familiengeschichte nicht gerecht, wenn wir einerseits genealogische Ursprungsfragen oder "tote Punkte" vor 400 Jahren mit großem Aufgebot an Wahrscheinlich- und Vermutlich-Formulierungen darstellten, andererseits aber bekannte - wenn auch unangenehme - Tatsachen aus dem Zeitraum der letzten drei Generationen tabuierten.

Bekanntlich ist die Zensur, d.h. das Verschweigen oder das Vernichten von Informationen, ein Symptom bzw. eine der Machterhaltungsmethoden von diktatorisch organisierten gesellschaftlichen Systemen. Aktuelle oder historische Tatsachen, die sich trotz größter dialektischer Anstrengung nicht in das gewünschte Weltbild einfügen lassen, gefährden das betreffende, oft utopische Weltbild, und damit die Macht der Ideologen. Wenn wir solche Methoden im großen Rahmen einer politisch-staatlichen oder auch religiösen Gesellschaft nicht wollen, dann sollten wir sie auch im kleinen Rahmen der Familie nicht praktizieren. Denn wie heißt es so schön und wird gerne auch von Genealogen als Postulat zitiert: Die Familie ist die Keimzelle des Volkes.

Anmerkungen/Quellen

1 Johann Christoph Gatterer:Abriß der Genealogie. Göttingen 1788: Reprint Verlag Degener&Co.

2 Mitt.d.Westdeutschen Ges.f.Familienkunde, Band 37, Heft 5, Seite 114

3 Familienforschung in Mitteldeutschland, 36.Jahrgang, Heft 4, Seite 180

4 Genealogie, Band XXIII, Heft 1/2, Seite 28

5 Mitt.d.Westdeutschen Ges.f.Familienkunde, Band 37, Heft 5, Seite 115

6 Familienforschung in Mitteldeut                                                                                    zurück