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Joachim Herrmann, Bad Honnef

Wer alte Kirchenbücher lesen kann

Zum Artikel von Ulrich Raulff „Zur Moral der Genealogie“ (FAZ-Feuilleton vom 24. August):

So begrüßenswert es ist, daß eine große deutsche Tageszeitung dem Thema „Genealogie“ Raum und Aufmerksamkeit widmet, so bedauerlich ist es, wenn das Ergebnis so unbefriedigend ausfällt. Das Erfassen aller nur denkbaren Personenstandsdaten führt zu einem riesigen „Datenmüllhaufen“. Ob die Mormonen zwei, drei oder vier Millionen Daten in ihrem Tresor hüten: Es wird keine Genealogie daraus. Erst durch die oft mühevolle Kleinarbeit der Familienforscher, der Genealogen, wird der vorhandene „Datensalat“ geordnet. Dabei ist die jeweilige „Ordnung“ ohne einen festen Ausgangspunkt, das heißt einen vorhandenen Probanden, nicht möglich. Historische, soziologische, erb- und handelsrechtliche Bezüge auf lokaler und regionaler Ebene lassen erst das bunte Mosaik entstehen, das der jeweiligen Familiengeschichte Farbe verleiht. Es bewahrt aber auch den ernsthaften Forscher vor jeder „Ahnenpaßideologie“. Abgesehen davon haben Menschen in den neuen Ländern erstmals am konkreten Beispiel die Möglichkeit, ohne ideologische Scheuklappen sich alle verfügbaren Quellen selber zu erschließen.

Ohne auf den religiösen Hintergrund der „Sammelwut“ der Mormonen näher einzugehen, muß aber folgendes hervorgehoben werden: Die bei beiden christlichen Kirchen seit der Reformation entstandenen Kirchenbücher mit Aufzeichnungen über Geburt und Tod sowie den Ehestand der lokalen Bevölkerung stellen ein unvergleichlich kostbares Kulturgut dar. Während Kirchen, Stiftungen und öffentliche Hände viele Mittel zum Erhalt der gebauten, sichtbaren „Zeitzeugen“ aufwenden, steht der Erhalt der vom Verfall bedrohten Kirchenbücher nicht im Mittelpunkt des Interesses. Während offensichtlich die Mittel der Kirchen nicht ausreichen, die überkommenen Bestände zu retten und dauerhaft zu konservieren, haben hier die Mormonen eher unbewußt das große Verdienst, eine Vielzahl von Kirchenbüchern fotografiert und damit dauerhaft gesichert zu haben. Da die Mormonen diese Filme und neuerdings die Daten auch über Internet preisgünstig oder kostenlos zur Verfügung stellen, ist die direkte Benutzung und Einsicht in die Kirchenbücher entbehrlich. Sie werden geschont und dadurch besser vor dem Verfall bewahrt. Dieser Sachverhalt ist deshalb bemerkenswert, weil bei früheren Stadtbränden, in Kriegszeiten bis hin zur „Beutekunst“ im Zweiten Weltkrieg vielfältige Verluste an frühen zeitgeschichtlichen Zeugnissen und Dokumenten zu beklagen sind.

Ein weiterer Aspekt: Der erfreulich wachsenden Zahl auch jüngerer Menschen, die die Wurzelen erforschen wollen, steht der Mangel an Kenntnis der alten Schriften in den Kirchenbüchern im Wege. Es müssen alle Kräfte unterstützt werden, die sich um die Sicherung dieser alten Dokumente bemühen, weil es bald kaum oder nur mit großem Aufwand möglich sein wird, den Inhalt dieser Schriften zu entschlüsseln. Die Suche nach Daten, Hinweisen und Aussagen über Ahnen mittels PC und Internet fördert ganz nebenbei die individuellen Fähigkeiten im Umgang mit dieser Technik in ungeahnter Weise. Vielleicht läßt sich hiermit ein Anfang setzen, um über die „gänzlich unbekannte Absicht“ der Ahnenforscher mehr Erkenntnis zu erhalten.