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http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,320720,00.html
RECHENMODELL
Urvater der Menschheit lebte vor 2300 Jahren
Gibt es den Urvater, einen gemeinsamen Vorfahren aller Menschen? Und
falls ja, wann hat er gelebt? Forscher sind nach aufwendigen Simulationen
zu einem überraschenden Ergebnis gekommen: Der Universal-Urahn starb rein
rechnerisch vor nur 2300 Jahren.
An
Stammbäumen lässt sich forschen, mit ihnen lässt sich auch allerlei Unfug
treiben. Ein ansehnlicher Teil der deutschen Bevölkerung etwa könnte sich,
Geduld und Akribie vorausgesetzt, in seiner Abstammung auf Karl den Großen
zurückführen. Das Szenario ist beliebig austauschbar: In England etwa
taucht wiederholt die Anekdote auf, alle Engländer dürften König Heinrich
III. zu ihren Vorfahren zählen.
Würde man aber auch auf einen Ahnen aller lebenden Menschen treffen, wenn
man weit genug in die Vergangenheit ginge? Ja, meinen US-Forscher, und
mehr noch: Der Urvater der Menschheit sei erst seit überraschend kurzer
Zeit tot. Die Rechenmodelle des Teams um Douglas Rohde vom Massachusetts
Institute of Technology ergaben, dass der universelle Vorfahr vor etwa
2300 Jahren lebte - vorausgesetzt, man definiert Verwandtschaft im Sinne
des Stammbaums und nicht im Sinne der Vererbung von Genen.
Die Berechnungen von Rohde und seinen Kollegen basieren auf einer
einfachen Einsicht: Jeder Mensch hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht
Urgroßeltern und so weiter - die Zahl der Vorfahren verdoppelt sich mit
jeder Generation und steigt nahezu exponentiell an. Schon nach wenigen
Generationen überlappen sich die Stammbäume von Menschen, die in völlig
verschiedenen Teilen der Welt leben. In vereinfachten Rechenmodellen
dauert es etwa zehn Generationen, bis es jemanden gibt, der im Stammbaum
jedes heute lebenden Menschen auftaucht.
Komplexes Rechenwerk
Legt man die aktuelle Weltbevölkerungszahl zugrunde, würde ein solcher
Urvater nach 20 bis 33 Generationen auftauchen, schreiben die Forscher im
Wissenschaftsmagazin "Nature" (Ausg. 431, S. 562), was bei einer
Generationszeit von 30 Jahren bedeuten würde, dass er vor 600 bis 990
Jahren lebte. Ginge man noch weiter in die Vergangenheit, wird der
Sachverhalt noch bizarrer: Es gäbe immer mehr Urväter, die allesamt zu den
Vorfahren jedes heute lebenden Menschen zählten - und die restlichen wären
Niemandes Vorfahren, da ihre Linien ausgestorben sind.
Allerdings geht dieses einfache Modell davon aus, dass sich die gesamte
Menschheit beliebig vermischen kann. Wichtige Faktoren, wie etwa
unterschiedliche Geschwindigkeiten des Bevölkerungswachstums oder
geografische Isolierung, werden außer Acht gelassen. Das Überraschende an
den Berechnungen von Rohde und seinen Kollegen aber ist: Auch wenn diese
Faktoren berücksichtigt werden, rutscht der gemeinsame Urahn aller heute
lebenden Menschen nicht viel weiter in die Vergangenheit.
Die Forscher kalkulierten mehrere Szenarien mit verschiedenen
Wachstumsraten, unterschiedlich stark isolierten Gruppen und
gelegentlicher Migration zwischen den einzelnen Gesellschaften. Doch
sowohl einfache als auch äußerst komplizierte Modelle kamen in etwa zum
gleichen Ergebnis: Der Urvater lebte vor 76 Generationen - was bei einer
angenommenen Generationsdauer von rund 30 Jahren bedeuten würde, dass er
vor etwa 2300 Jahren existierte.
Unterschied zwischen Genealogie und Genetik
Das aber trifft nur zu, wenn man Verwandtschaft als das Auftauchen in
jemandes Stammbaum definiert. Diese Art von "Familienzugehörigkeit" müsse
nicht unbedingt bedeuten, dass ein Vorfahr seine Gene an jeden seiner
Nachkommen vererbt hat, betont Jotun Hein, Statistiker an der University
of Oxford. "Im Stammbaum jedes Menschen zu stehen bedeutet nicht, dass ein
Individuum einen signifikanten genetischen Beitrag zur heutigen
Bevölkerung geleistet hat", schreibt Hein in einem Begleitkommentar in
"Nature". "Das Individuum könnte auch rein gar nichts beigetragen haben."
Der Unterschied zwischen genealogischer und genetischer Verwandtschaft
zeige sich am Beispiel des so genannten "Eva-Gens". Einer gängigen Theorie
zufolge vererben Frauen - im Gegensatz zu Männern - die DNS ihrer
Mitochondrien, der Kraftwerke in den Körperzellen, an ihre Kinder weiter.
Zudem besteht die Erbinformation im Zellkern aus 100.000, die
Mitochondrien-DNS aber nur aus 37 Genen, und viele Mutationen ändern
nichts an der Funktion der Zellkraftwerke. Deshalb lassen sich auf diese
Weise relativ einfach Stammbäume rekonstruieren, bis zurück zur "Ur-Eva".
In diesem Modell steigt die Zahl der Vorfahren mit den Generationen nicht
nahezu exponentiell, sondern wesentlich langsamer an. Das hat laut Hein
zur Folge, dass im Stammbaum eines Menschen schon nach sechs Generationen
Vorfahren auftauchen, die keine genetischen Spuren hinterlassen haben.
Oder, mit anderen Worten: Die allermeisten Engländer sind heutzutage
erfrischend unblaublütig - genauso wie die Deutschen.
Markus
Becker
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