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RECHENMODELL

Urvater der Menschheit lebte vor 2300 Jahren

Gibt es den Urvater, einen gemeinsamen Vorfahren aller Menschen? Und falls ja, wann hat er gelebt? Forscher sind nach aufwendigen Simulationen zu einem überraschenden Ergebnis gekommen: Der Universal-Urahn starb rein rechnerisch vor nur 2300 Jahren.

An Stammbäumen lässt sich forschen, mit ihnen lässt sich auch allerlei Unfug treiben. Ein ansehnlicher Teil der deutschen Bevölkerung etwa könnte sich, Geduld und Akribie vorausgesetzt, in seiner Abstammung auf Karl den Großen zurückführen. Das Szenario ist beliebig austauschbar: In England etwa taucht wiederholt die Anekdote auf, alle Engländer dürften König Heinrich III. zu ihren Vorfahren zählen.

Würde man aber auch auf einen Ahnen aller lebenden Menschen treffen, wenn man weit genug in die Vergangenheit ginge? Ja, meinen US-Forscher, und mehr noch: Der Urvater der Menschheit sei erst seit überraschend kurzer Zeit tot. Die Rechenmodelle des Teams um Douglas Rohde vom Massachusetts Institute of Technology ergaben, dass der universelle Vorfahr vor etwa 2300 Jahren lebte - vorausgesetzt, man definiert Verwandtschaft im Sinne des Stammbaums und nicht im Sinne der Vererbung von Genen.

Die Berechnungen von Rohde und seinen Kollegen basieren auf einer einfachen Einsicht: Jeder Mensch hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern und so weiter - die Zahl der Vorfahren verdoppelt sich mit jeder Generation und steigt nahezu exponentiell an. Schon nach wenigen Generationen überlappen sich die Stammbäume von Menschen, die in völlig verschiedenen Teilen der Welt leben. In vereinfachten Rechenmodellen dauert es etwa zehn Generationen, bis es jemanden gibt, der im Stammbaum jedes heute lebenden Menschen auftaucht.

Komplexes Rechenwerk

Legt man die aktuelle Weltbevölkerungszahl zugrunde, würde ein solcher Urvater nach 20 bis 33 Generationen auftauchen, schreiben die Forscher im Wissenschaftsmagazin "Nature" (Ausg. 431, S. 562), was bei einer Generationszeit von 30 Jahren bedeuten würde, dass er vor 600 bis 990 Jahren lebte. Ginge man noch weiter in die Vergangenheit, wird der Sachverhalt noch bizarrer: Es gäbe immer mehr Urväter, die allesamt zu den Vorfahren jedes heute lebenden Menschen zählten - und die restlichen wären Niemandes Vorfahren, da ihre Linien ausgestorben sind.

Allerdings geht dieses einfache Modell davon aus, dass sich die gesamte Menschheit beliebig vermischen kann. Wichtige Faktoren, wie etwa unterschiedliche Geschwindigkeiten des Bevölkerungswachstums oder geografische Isolierung, werden außer Acht gelassen. Das Überraschende an den Berechnungen von Rohde und seinen Kollegen aber ist: Auch wenn diese Faktoren berücksichtigt werden, rutscht der gemeinsame Urahn aller heute lebenden Menschen nicht viel weiter in die Vergangenheit.

Die Forscher kalkulierten mehrere Szenarien mit verschiedenen Wachstumsraten, unterschiedlich stark isolierten Gruppen und gelegentlicher Migration zwischen den einzelnen Gesellschaften. Doch sowohl einfache als auch äußerst komplizierte Modelle kamen in etwa zum gleichen Ergebnis: Der Urvater lebte vor 76 Generationen - was bei einer angenommenen Generationsdauer von rund 30 Jahren bedeuten würde, dass er vor etwa 2300 Jahren existierte.

Unterschied zwischen Genealogie und Genetik

Das aber trifft nur zu, wenn man Verwandtschaft als das Auftauchen in jemandes Stammbaum definiert. Diese Art von "Familienzugehörigkeit" müsse nicht unbedingt bedeuten, dass ein Vorfahr seine Gene an jeden seiner Nachkommen vererbt hat, betont Jotun Hein, Statistiker an der University of Oxford. "Im Stammbaum jedes Menschen zu stehen bedeutet nicht, dass ein Individuum einen signifikanten genetischen Beitrag zur heutigen Bevölkerung geleistet hat", schreibt Hein in einem Begleitkommentar in "Nature". "Das Individuum könnte auch rein gar nichts beigetragen haben."

Der Unterschied zwischen genealogischer und genetischer Verwandtschaft zeige sich am Beispiel des so genannten "Eva-Gens". Einer gängigen Theorie zufolge vererben Frauen - im Gegensatz zu Männern - die DNS ihrer Mitochondrien, der Kraftwerke in den Körperzellen, an ihre Kinder weiter. Zudem besteht die Erbinformation im Zellkern aus 100.000, die Mitochondrien-DNS aber nur aus 37 Genen, und viele Mutationen ändern nichts an der Funktion der Zellkraftwerke. Deshalb lassen sich auf diese Weise relativ einfach Stammbäume rekonstruieren, bis zurück zur "Ur-Eva".

In diesem Modell steigt die Zahl der Vorfahren mit den Generationen nicht nahezu exponentiell, sondern wesentlich langsamer an. Das hat laut Hein zur Folge, dass im Stammbaum eines Menschen schon nach sechs Generationen Vorfahren auftauchen, die keine genetischen Spuren hinterlassen haben. Oder, mit anderen Worten: Die allermeisten Engländer sind heutzutage erfrischend unblaublütig - genauso wie die Deutschen.

Markus Becker


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