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Die Ahnen sind online - Teil 1:
Weihnachten unterm Stammbaum
Millionen verfolgen die Familiensaga des Buddenbrook-Autors Mann. Der Kanzler kontaktiert verschollene Cousinen im Osten. Joschka Fischer ließ gar ein Sippenwappen fertigen: Die lange Zeit verpönte Familienforschung hat den Durchbruch zum Volkssport geschafft und ist nach Sex zum größten Markt im Internet geworden. Von Jochen Bölsche Einst, als sich der Jungmilitante Joschka Fischer mit schwarzem Helm und schneller Faust um den Respekt seiner Genossinnen und Genossen bemühte, kam die Rede bisweilen auf seine Abstammung. Sein Vater sei ein "armer Grasfresser" gewesen, erzählte er dann seinen Mitstreitern, in deren Weltsicht der Nachweis proletarischer Ahnen einen Linken gleichsam adelte. Ein Vierteljahrhundert später - der halbstarke Außenseiter hat sich in einen starken Außenminister verwandelt - muss Fischer zunehmend Wert auch auf die Zuneigung bürgerlicher Wähler legen. So begann das PR-Genie, seine einstmals so harte Rechte mit einem noblen Siegelring zu schmücken. Doch das Accessoire trug dem Aufsteiger in der feinen Gesellschaft vorwiegend Spott ein. Zwar nahm ein Lifestyle-Kolumnist den einstigen Turnschuhpolitiker in der "Welt am Sonntag" mit dem Hinweis in Schutz: "Einen Siegelring dürfen auch Bürgerliche ohne adlige Häme tragen." Das Schwesterblatt "Welt" aber mochte sich die Bemerkung nicht verkneifen, Fischers wappenloser "Siegelring ohne Siegel" werde "in Adelskreisen 'kalte Platte' genannt". Womöglich um solche Anzüglichkeiten zu vermeiden, kam dem Minister vor geraumer Zeit ein Vorschlag seiner derzeitigen Ehefrau Nicola Leske gelegen: Die Fischers sollten sich doch ein Sippenwappen entwerfen lassen. Einen tüchtigen Heraldiker hatte die Gattin bei einer Hospitanz in der "Geo"-Redaktion kennen gelernt, die ein Special zum Thema Mittelalter vorbereitete. Mittlerweile kann jedermann in der "Rhein-Main-Wappenrolle" unter der Registernummer 007-09-99 und sogar im Web das farbige Prachtwerk bewundern, das der Odenwälder Künstler Dieter Krieger auf Antrag von "Bundesaußenminister Joseph Martin Fischer" gefertigt hat - Eintragungsgebühr: 391,17 Mark. Zugrunde lag der Arbeit das Stammbuch der Fischers; zu dessen Auswertung war das "Einverständnis des Beteiligten" eingeholt worden. Heraldiker Krieger verfolgte Fischers Spuren "bis zu Jakob Fischer, der 1740 Franciska Yack geehelicht hat". Ein Asterix-Helm ziert das Wappen des Außenministers. Und siehe da: Der Stammbaum der vermeintlichen Grasfresser wipfelt in einer uralten schwäbischen Metzger-Dynastie. Das Fischer-Wappen gestaltete der Heraldiker daher mit Hilfe von zwei blutroten Hackebeilen über einem silbernen Fisch, gekrönt von einem geflügelten Kopfschmuck, einer Art Asterix-Helm. Begründung: "Der Fisch steht als redendes Zeichen für den Familiennamen ... Die Fleischerbeile interpretieren den Berufsstand des Metzgers... Der Flug in der Helmzier steht für das Amt des Bundesaußenministers." Mit der Suche nach seinen familiären Wurzeln liegt der Vizekanzler voll im Trend: Gut ein halbes Jahrhundert nach dem mörderischen Missbrauch der Ahnenforschung durch die Nazis haben die Deutschen die lange Zeit verfemte und verpönte Genealogie wiederentdeckt. Während die Familiensaga des "Buddenbrook"-Autors Thomas Mann Millionen von Fernsehzuschauern fasziniert, tragen prominente Gegenwartsautoren zur Popularisierung der Ahnenforschung bei. Vor allem um Stammbäume geht es in den jüngsten Werken etwa von Péter Esterházy ("Harmonia Caelestis"), Robert Menasse ("Die Vertreibung aus der Hölle") oder F. C. Delius ("Der Königsmacher"). Dass die Familienforschung auf dem besten Weg ist, sich nach US-Vorbild zum Volkssport zu entwickeln, verdankt sie vor allem aber dem Internet: Netz-Neulinge, die aus purer Neugier zunächst mal ihren Familiennamen in eine Suchmaschine eingeben, entdecken per Mausklick binnen Sekunden Dutzende, wenn nicht Hunderte oder Tausende von Namensvettern in aller Welt. Dieses Aha-Erlebnis mobilisiert bei manch einem schlummerndes Interesse an der eigenen Sippschaft. Wer gar, so wie inzwischen Hunderttausende von Bundesbürgern, über eine eigene Homepage im weltweiten Netz verfügt, muss jederzeit damit rechnen, seinerseits von mutmaßlichen Verwandten aus den USA aufgestöbert zu werden. Botschaft aus Übersee: "Hi, we must be relatives" Denn die Amerikaner, von denen fast jeder vierte von deutschsprachigen Einwanderern abstammt, sind geradezu versessen darauf, ihre Roots in der Alten Welt zu entdecken. Immer wieder finden deutsche User in ihrer Mailbox daher Post von namensgleichen US-Bürgern, die mit dem Satz beginnt: "Hi... We must be relatives." Zu den Pionieren der Internet-Genealogie in Deutschland zählen, kein Wunder, Angehörige des Hochadels wie der Göttinger Computer-Freak Heinrich Prinz von Hannover, 39. Auf dessen elektronischer Ahnentafel stehen nicht nur relativ nahe "relatives", darunter Zelebritäten wie sein feuchtfröhlicher Bruder Ernst-August, der Prügelprinz, und Urgroßvater Wilhelm, der letzte deutsche Kaiser. Verzeichnet sind auch so ferne Vorfahren wie Heinrich der Wunderliche, Albrecht der Fette oder Wilhelm mit dem großen Bein. Doch nicht jeder, der die Website von Heinrich dem Homepagebastler besucht, bezeugt dem stolzen Geschlecht den erwarteten Respekt. Da sudelt schon mal einer ins Gästebuch: "Welfen - das klingt wie Welpen. Wozu braucht man das?" Und ein "König von Hawaii" hinterlässt ("nur so zum Nachdenken") einen Reim: "Ich fühle mich so frei / in Hawaii als Nackedei." Neu ist, dass neben den Blaublütern - die stets schon Stammbaumpflege betrieben haben - immer mehr gemeines Volk im Urschlamm der Historie nach seinen Feinwurzeln buddelt. Bei den über 55-jährigen Web-Nutzern ist die Ahnenforschung bereits die zweithäufigste Internet-Anwendung (nach dem E-Mail-Versand). "Jedem seine Dynastie", kommentiert die Hamburger "Zeit" die neue Massenbewegung. "Nach Sex dürfte Genealogie der größte Markt im Internet sein", staunt die "Frankfurter Allgemeine". "Die Genealogie macht süchtig" In den Hitlisten der Software-Hersteller stehen CD-Roms mit Programmen wie "Familienstammbuch", "Ahnenchronik" oder "Ahnengalerie" auf Spitzenplätzen. Volkshochschulen offerieren, wie in Bremen, spezielle Lehrgänge für Web-Ahnenforscher. Inzwischen ist auch eine Fachzeitschrift mit dem Titel "Computergenealogie" am Markt. Vor allem in der Weihnachtszeit kommt es in Gasthaus-Sälen und Hotel-Konferenzräumen zu bizarren Szenen: Wenn ein Kellner hereinschaut und einen Herrn Soundso ans Telefon bittet, springen alle Anwesenden gleichzeitig auf: So genannte Familienverbände, die sich vor allem der Ahnenforschung widmen, gewinnen an Zulauf. "Spaß gibt's reichlich", berichtet der Hamburger Lokalredakteur Gerhard Bork, der eine Website für seinen Familienverband gestaltet: "Schließlich sagt man uns Bor(c)ks ja nach, dass wir nicht nur die großen Ohren, sondern auch den trockenen Humor gemeinsam haben". Und womöglich noch mehr: Neumitglieder berichten laut Bork immer wieder, sie hätten sich beim ersten Treffen im Kreise der bis dato Unbekannten sofort "wie in einer großen Familie gefühlt". "Tja", sinniert Bork, "komisch ist das." Der Drang herauszufinden, ob all die Namensvettern auch durch Blutsbande einander verbunden sind, lässt manch einen zeitlebens nicht mehr los. "Die Genealogie macht süchtig", berichten die Weinheimer Hobbyforscher Brigitte und Gerd Arwers. Ihren Kick erleben diese Suchtkranken, wenn sich "die gesammelten Informationen wie Puzzleteile ergänzen". Auf diese Weise stießen zwei Thüringerinnen, Inge Siegel und Heidelinde Munkewitz, sogar auf einen Cousin im Kanzleramt; Gerhard Schröder hat ihnen bereits im Sommer einen Besuch abgestattet. Für "Wowi" ein Maskottchen von der Namensvetterin Berlins Bürgermeister Klaus ("Wowi") Wowereit bekam eine E-Mail von einer Namensvetterin: Eine Cornelia Wowereit bat den SPD-Politiker um Ahnendaten. Sie revanchierte sich mit einem handgemachten Mohair-Teddy. Dem Maskottchen, behauptet Wowereit, verdanke er seinen Wahlsieg. Dem Bundesaußenminister hingegen trug das plötzlich erwachte Interesse für die Sippschaft auch ein wenig Spott ein. Nachdem sein frisch erworbenes Wappen im Frühjahr in Adelskreisen bekannt geworden war, mokierte sich ein Egi Graf Gatterburg aus dem Rheinhessischen in einem Leserbrief an die "FAZ", der geflügelte Asterix-Helm passe so überhaupt nicht zu Fischer: "Man stelle sich nur diese Flügel unter einem Wasserwerfer vor." Ein schwarzer Motorradhelm, so der Graf, wäre für Joschka Fischer in jeder Hinsicht "als Wappenzier signifikanter". Der Minister selber, mittlerweile tief verstrickt in den Zwist um Krieg und Frieden, hält womöglich einen Helm in Grau oder in Blau für angemessener. Die Ahnen sind online, Teil 2: Ein Hobby verlässt die "Kukident-Ecke" Noch immer gilt Ahnenforschung weithin als Freizeitbeschäftigung ergrauter Sonderlinge. Doch längst widmet sich eine neue Generation von Hobbyisten der mühevollen Detektivarbeit in Chatrooms und Kirchenarchiven. Von Jochen Bölsche Seit neun Jahren befasst sich der Bad Nauheimer Sascha Ziegler, 22, mit der Erforschung seiner Familiengeschichte. So erfolgreich widmete sich das junge Genie der Genealogie, dass ihm die "Frankfurter Rundschau" einen schönen Ehrentitel verlieh: "Geneal." Bereits als Schüler recherchierte Ziegler in Kirchenarchiven und Chatrooms seinen Stammbaum, der bis ins 12. Jahrhundert reicht. Dass er um Dutzende von Ecken auch mit Goethe verwandt ist, spielt er bescheiden herunter: "Das ist irgendwie fast jeder." Elvis Presley war der Urururururururenkel eines pfälzischen Winzers An Nachwuchskräften wie Ziegler liegt es, dass das klassische Senioren-Hobby mittlerweile mehr und mehr "aus der Kukident-Ecke" herauskommt. Mit Gleichgesinnten, die einander scherzhaft als "Ahnwender" bezeichnen, bastelt der Bad Nauheimer an einem Webzine, in dem Tausende von Genealogie-Seiten katalogisiert sind - Slogan: "Die Ahnen sind online." Dazu hat Ziegler einen Web-Shop aufgezogen, der allerlei Fachliteratur feilhält, darunter einen Ratgeber "Ahnenforschung online für Dummies". Ein Minimum an Intelligenz ist schon vonnöten, wenn die Ahnensuche von Erfolg gekrönt sein soll. Denn die in Deutschland am häufigsten genutzten Quellen - alte Kirchenbücher (meist seit 1648) und Standesamtsregister (seit etwa 1874) - weisen allerlei Lücken und Tücken auf. Viele Dokumente sind in unleserlicher altdeutscher Handschrift verfasst und wimmeln von mysteriösen Kürzeln wie "9ber" (für November) oder "GG" (für Georg). Statt des Geburtstages ist in Kirchenbüchern oft das Taufdatum vermerkt, statt des Todestages der Beerdigungstermin. Die Schreibweise von Eigennamen kann von Jahr zu Jahr wechseln. Manch ein Anfänger braucht lange, bis er begreift, dass es sich bei einem "Uulmann" und einem "Eulemann" um dieselbe Person handelt. Und nur wer weiss, auf welche Weise seine ausgewanderten Vorfahren einst ihren Namen amerikanisiert haben, kommt dahinter, dass Elvis Presley - ein Urururururururenkel des pfälzischen Winzers Johann Valentin Pressler - sein Vetter achten Grades war. Rätselhaftes "Soundex": Aus "Zedlitz" wird "Zotteldecke" Bei der Recherche in Datenbanken, in denen viele Hobbyisten ihre Stammtafeln hinterlegt haben, hilft den Ahnendetektiven ein viel genutztes Programm: "Soundex" verspricht, neben dem gesuchten Meier auch jeden (womöglich identischen) Maier, Meyer oder Mayer herauszufiltern; es tilgt zu diesem Zweck alle Vokale und übersetzt Konsonanten in einen Ziffernkode. Doch bei deutschen Namen liefert das US-Programm, das für den englischsprachigen Raum entwickelt wurde, "oft merkwürdige Ergebnisse", wie ein Ahnenforscher namens Jesper Zedlitz im Web warnt: "S530 steht für Schmidt und Sandemann, Z343 für Zedlitz und Zotteldecke." Aus der Genealogie-Hochburg USA stammen nicht nur die meisten Computerprogramme für Ahnenforscher. Firmen wie ancestry.com und genealogy.com treiben auch einen schwunghaften Handel mit Behörden - und Versicherungsdaten, die sie, auf CD-Rom gebrannt, an Ahnensucher in aller Welt verkaufen. Über den weltweit größten Bestand an Verstorbenen-Daten verfügen nach wie vor die Mormonen, die in einem Granitfelsen in Utah die Personalien von rund zwei Milliarden Menschen erdbeben- und atombombensicher gebunkert haben - aus religiösen Gründen: Die "Heiligen der letzten Tage" sind davon überzeugt, nicht nur möglichst viele Lebende, sondern auch möglichst viele Tote taufen zu müssen. Hinter tonnenschweren Tresortüren lagern allein über zwei Millionen Mikrofilme, auf denen diese Heiligen auch den Inhalt Tausender teils schon vermodernder Kirchenbücher aus deutschen Gemeinden gesichert haben. Über das Web machen die Mormonen das Ergebnis ihrer Erkundungen im Totenreich auch privaten Ahnenforschern zugänglich. Suche nach den Ahnen von Woody Allen und Barbara Streisand In diesem Jahr erst konnten die Seelenfänger aus Salt Lake City ihre Sammlung um einige hunderttausend Datensätze aus Hamburg erweitern: Im Auftrag des Senats stellen zwei Dutzend körperbehinderte Hilfskräfte nach und nach die Passagierlisten der hanseatischen Reedereien ins Internet, die von 1850 bis 1934 fünf Millionen Auswanderer nach Amerika befördert haben. In deren Nachfahren - insgesamt 55 Millionen Menschen - sieht Hamburg eine Zielgruppe für ganz spezielle Angebote. Das Staatsarchiv soll amerikanischen Ahnensuchern kostenpflichtige Detailauskünfte offerieren, dazu später vielleicht auch Merchandising-Artikel wie Buddelschiffe oder Büffelleder-Urkunden. Vor allem aber hoffen die Hanseaten auf einen Touristik-Boom durch Amerikaner, die in der Hafenstadt auf den Spuren ihrer Vorfahren wandeln wollen. Voriges Jahr wurde erstmals eine "Four Day Emigration Tour" für 598 Dollar angeboten - mit Informationen etwa darüber, dass sich einst auch die Vorfahren von Barbra Streisand und Woody Allen, Steven Spielberg und Kirk Douglas in Hamburg eingeschifft haben. Demnächst will der Senat eine der historischen Auswandererhallen im Hafenviertel Veddel herrichten - als Attraktion für den Ahnentourismus und als Gegenstück zum legendären US-Aufnahmelager Ellis Island. Die Resonanz, die Hamburgs "LinkToYourRoots"-Programm findet, ist schon jetzt gewaltig - rund 20.000 User wählen sich monatlich ein. Genutzt wird das Angebot zur Überraschung der Betreiber nicht nur von Amerikanern, die deutsche Vorfahren suchen, sondern zunehmend auch von Deutschen, die ihrer amerikanischen Verwandtschaft nachspüren wollen. Auch wilde Ehen dürfen neuerdings im Geschlechterbuch verzeichnet werden Ebenso schwierig wie die Fahndung nach Dokumenten aus fernen Zeiten und anderen Breiten ist oft der Umgang mit Folgen aktueller Trends: Ehefrauen, die ihren Mädchennamen behalten; Lesbenpaare, die Kinder adoptieren; Patchwork-Familien, in denen jeder einen anderen Nachnamen hat - das bereitet manchem Stammbaumstrichler Kopfschmerzen. Doch selbst das "Deutsche Geschlechterbuch", Bibel der Genealogen, trägt dem Wandel Rechnung: Ins Familienregister aufgenommen werden neuerdings auch "Stammhalterinnen", die den Sippennamen an ihre leiblichen Kinder weitergeben. Und neben dem alten Ehe-Symbol oo ist nun auch das Zeichen o-o zulässig - für nicht eheliche Lebensgemeinschaften. Hobbyforschern, aber auch professionellen Erbschaftsermittlern macht nicht nur die neue Unübersichtlichkeit zu schaffen. Viele Nachlass-Angelegenheiten bleiben heute auch deshalb ungeklärt, weil es in den vergangenen Jahrzehnten völlig aus der Mode gekommen war, Familienverhältnisse zu dokumentieren. Das Desinteresse kann potenzielle Erben von Millionenvermögen teuer zu stehen kommen. Erbenermittler wie der Nachlasspfleger Henning Schröder klagen heute: "Neunzig Prozent der Leute, die wir über ihr Erbe informieren, haben keine Ahnung von ihren verwandtschaftlichen Beziehungen." Auch das ist eine Spätfolge des NS-Rassenwahns, der die Ahnenforschung in Deutschland für Jahrzehnte in Verruf gebracht hat: Mit seinem schwülstigen Ahnenkult und seinen erzwungenen Ariernachweisen hat der Nationalsozialismus einst den Massenmord vorbereitet. Die Ahnen sind online, Teil 3: Die Rückkehr des Ahnenpasses In rasendem Tempo wachsen Genealogie und Genforschung zusammen. Im Ausland entstehen auf diese Weise bereits Ahnendateien, deren Potenzial alles in den Schatten stellt, wovon Hitlers mörderische Rassenfanatiker einst träumten. Im Dienste der "Rassenhygiene" durchsuchten Adolf Hitlers Sippenforscher nicht nur die Stammbäume der Volksgenossen nach jüdischen Vorfahren. Die braunen Genealogen trugen auch dazu bei, Daten über die erbliche Belastung von Geisteskranken und Epileptikern, Missgebildeten und Kriminellen zu erfassen - am Ende stand der als Euthanasie etikettierte Massenmord an mehr als 100.000 Menschen. Dass die Familienforschung in Deutschland, anders als in den USA, lange als politisch unkorrekt galt, hat triftige Gründe: Die - ursprünglich weitgehend unpolitische - Genealogie hatte sich im Nationalsozialismus als "Hilfswissenschaft der Humangenetik" missbrauchen lassen, wie die Tübinger Biologiehistorikerin Dorothee Früh resümiert. "Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches fand sich mit der medizinischen Genetik auch die Genealogie diskreditiert", schreibt die Biologin. Sofern überhaupt noch wissenschaftliche Familienforschung betrieben wurde, beschränkte sich das Interesse auf historische und soziologische Fragen; selbst wichtigste humanbiologische Themen wie die Erforschung der Vererbbarkeit etwa von Augenleiden oder anderen Krankheiten waren tabu. Island: Stammbäume und Gendaten werden zum Exportschlager Im Ausland dagegen haben sich Genealogie und Genetik mit atemberaubender Geschwindigkeit einander angenähert - allerdings zu gänzlich anderen Zwecken als im NS-Staat. Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung auf der Eisinsel Island. Der nordische Staat, dessen Bürger dank des Nationalhobbys Ahnenforschung ihre Abstammung über Jahrhunderte zurückverfolgen können, hat dem Wissenschaftler Kari Stefansson gestattet, eine landesweite Gen-Datei aufzubauen. Die Auswertung der anonymisierten Erbgut- und Ahnendaten soll dem Pharmakonzern Hoffmann-LaRoche ermöglichen, die genetischen Ursachen diverser Krankheiten zu ermitteln. Auch andere Länder, von der baltischen Republik Estland bis zum pazifischen Königreich Tonga, schaffen zur Zeit die Voraussetzungen dafür, das Genmaterial ihrer Bevölkerung zu sammeln und die Daten samt Abstammungszeugnissen und Krankenakten der Bürger ins Ausland zu verkaufen - ein Trend, der hohe Risiken birgt. Denn ob genetische Daten flächendeckend zu medizinischen Zwecken erhoben werden oder, wie von der CSU gefordert, zur Fahndung nach Sexualmördern - im Fall des Missbrauchs, unter totalitären Regierungen, stünden den Machthabern Dateien zur Verfügung, von deren Potenzial Hitlers Rassenfanatiker nur hätten träumen können. Jede einzelne Körperzelle ist heute ein biologischer Ahnenpaß. Denn: Jede Körperzelle - ob aus einer Wimpernwurzel oder einer Hautschuppe - stellt beim heutigen Stand der Forschung eine Art biologischen Ahnenpass dar. Das Erbgut enthält Aufzeichnungen über die Vorfahren und, in nicht genau bekanntem Umfang, sogar Prognosen etwa über die gesundheitliche Zukunft eines jeden Menschen. Die politischen und sozialen, medizinischen und juristischen Auswirkungen der gerade angebrochenen Ära der Biopolitik sind ungewiss - Ahnenforscher in aller Welt haben gerade erst begonnen, die fantastischen Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen eröffnen, seit die Software des Lebens weitgehend entschlüsselt worden ist. Einige spektakuläre Erbgutvergleiche haben in den letzten Jahren einem breiten Publikum demonstriert, was die Auswertung von genetischen Fingerabdrücken zu leisten vermag. Der Fall Kaspar Hauser: Ahnenforschung im Labor So wurde die angebliche Zarentochter Anastasia Romanowa von Genforschern als Schwindlerin entlarvt. Und mit Blutspuren auf 163 Jahre alten Textilien gelang Wissenschaftlern im Labor der Nachweis, dass der geheimnisvolle Findling Kaspar Hauser nicht, wie lange Zeit vermutet, der Erbprinz von Baden war (SPIEGEL 48/1996). Inzwischen sind in Europa und den USA erste Firmen gegründet worden, die Hobby-Forschern mit Hilfe ähnlicher Untersuchungsmethoden Informationen aus jenen Zeiten versprechen, über die kein Kirchenbuch mehr Aufschluss gibt. Amerikanische Firmen wie die Sorensen BioScience bauen Datenbanken mit transatlantischem Gen-Material auf. Die Dateien sollen zahlungskräftigen US-Bürgern per DNS-Vergleich bei der Suche nach ihren Roots in Europa oder Afrika helfen. Ein Ötzi-Forscher aus Oxford entdeckt die "sieben Töchter Evas" Am geschäftstüchtigsten scheint der prominente britische Genetiker Bryan Sykes. Er hatte in der Fachwelt mit einem wissenschaftlichen Scoop Aufsehen erregt. Er analysierte das Erbgut des 9000 Jahre alten "Cheddar Man" und verglich es mit dem genetischen Fingerabdruck eines Lehrers, der in der Nähe der Ausgrabungsstätte wohnt. Verblüffendes Resultat: Zwischen beiden Männern, so Sykes, bestehe eine "direkte genetische Verbindung". Mittlerweile analysiert Sykes, der auch das Erbgut des Eismenschen "Ötzi" untersucht hat, gegen Honorar die so genannte Mitochondrien-DNS von Privatleuten, um sie einer von sieben "Urmüttern" zuzuordnen. Laut Sykes stammen sämtliche Europäer von diesen "sieben Töchtern Evas" ab, denen er fiktive Vornamen verpasst hat: Tara, Helena, Katrine, Ursula, Velda, Xenia und Jasmine. Die Kunden müssen mit einem speziellen Pinsel Zellen aus ihrer Mundhöhle herauskratzen. Nach der Analyse des Materials stellt Sykes' Firma Oxford Anchestors ihnen eine Urkunde mit dem Namen der Urmutter aus. Sykes sagt, er selber stamme von Tara ab, die im heutigen Italien gelebt habe. "Daher", so der Oxford-Professor augenzwinkernd, "kommt wohl meine Vorliebe für italienisches Essen und Barolo-Wein." Seinen Kunden kann Sykes auch mit Landkarten dienen, auf denen die regionale Häufung des jeweiligen Nachnamens dokumentiert ist - ein, so der Professor, genealogisch bedeutsamer Umstand. Die DNA der Nachfahren enthüllt Seitensprünge der Urahnen In einem Beitrag für das "American Journal of Human Genetics" hat der Brite voriges Jahr nachgewiesen, dass das Erbgut von 50 Prozent seiner Namensvettern vier übereinstimmende DNA-Abschnitte enthält und damit auf einen gemeinsamen Vorvater deutet. Dass dies nicht bei allen Probanden der Fall ist, führt Sykes auf häufige Seitensprünge in seiner Dynastie zurück. Die Ahnen sind online, Teil 4: Wenn ein Kind der Klon seines Vaters ist Der NS-Staat missbrauchte die Ahnenforschung für Mord und Menschenzucht, Margot Honecker ließ heimlich die Abstammung der DDR-Elite erforschen. Doch auch der heutige Umgang mit Gen- und IQ-Daten macht eine Debatte über die ethischen Grenzen der Ahnenforschung erforderlich. Von Jochen Bölsche Keinem anderen als dem sozialdemokratischen Sicherheitspolitiker Otto Schily ist es zu verdanken, dass sich in Deutschland jüngst eine breite Öffentlichkeit der Gefahren bewußt geworden ist, die ein Mißbrauch von Gen-Daten eines Tages womöglich heraufbeschwören könnte. Als der Bundesinnenminister im Herbst, nach den Terrorattacken in den USA, sein eilig geschnürtes "Sicherheitspaket" präsentierte, nahmen Datenschützer an dem Passus über den künftigen Personalausweis Anstoß: Neben dem Fingerabdruck sollten auf der Legitimationskarte, verschlüsselt, auch sonstige "biometrische Daten" erfasst werden dürfen. Wie berechtigt ist die Angst, dass Sicherheitsfanatiker aufgrund einer solchen Klausel in Spannungszeiten auch die DNA-Daten aller Bürger erfassen und speichern könnten? Und ist auszuschliessen, dass die so entstehenden Datenbanken nach Kapitalverbrechen routinemässig per Rasterfahndung durchkämmt werden? Noch scheinen solche Sorgen verfrüht, manch einem unbekümmerten Beobachter gar absurd. Doch im westlichen Ausland hat bereits die Diskussion über derlei Fragen bereits begonnen - etwa darüber, wie weit der Einzug der Genetik in die Genealogie die Bürgerrechte bedroht. Französische Datenschützer beargwönen sogar die Sammelwut der frommen Mormonen: Die Zivilstandsdaten könnten einmal, wie zur NS-Zeit, zu medizinhistorischen und genetischen Studien herangezogen werden. "Wird man dann die genealogischen Archive elektronisch durchwühlen, um pathologische Familienromane und individuelle Belastungsprofile zu erstellen?", fragte die "FAZ", die bereits vor einer "Wiederkehr des Ahnenpasses" warnte. Zwar sind bereits erste deutschsprachige Websites - zum Beispiel dna-genealogie.de und genetalogie.de - dem Zukunftsthema gewidmet. Doch von dem Trend, die Genetik der Genealogie nutzbar zu machen, ist Deutschland vorerst kaum erfasst worden - im Gegensatz zu Staaten wie Island und Estland, wo Politiker die genetischen und genealogischen Daten ihrer Bürger als Exportschlager entdeckt haben. Kopfzerbrechen, wenn ein Kind der Klon seines Vaters ist Andere Folgen der Gentechnologie sind derart dramatisch, dass sie der Genealogie die biologische Basis entziehen könnten: das Prinzip der Generation. Bei einem Kongress über "Genealogie und Genetik" in Potsdam warfen Wissenschaftler die Frage auf, wo der (genetisch identische) Klon eines Menschen verortet werden müsste: "Wie ist ein Kind mit seinem Vater verwandt, wenn es dessen Klon ist?" Und schon leben auf der Erde Menschen, die väterlicherseits aus dem Internet stammen - gezeugt mit Hilfe namentlich bekannter oder anonymer Spender, deren Samen diverse "sperm banks" im Web anpreisen. Eine Portion kostet rund 200 Dollar. Zusätzliche Informationen werden extra berechnet, etwa der Stammbaum des Spenders samt medizinischer Details: Wie ist es um den Blutdruck des Sperma-Lieferanten bestellt? Woran sind Eltern und Großeltern gestorben? Litt irgendwer in der Sippe an Alzheimer oder an Schizophrenie? Margot Honecker liess heimlich die Stammbäume der IQ-Elite erforschen Dass die Schreckensvision, Genetik und Genealogie könnten zur Menschenzucht missbraucht werden, nicht blosse Utopie ist, zeigt ein Blick in die deutsche Geschichte. Rote wie Braune hat der Gedanke offenbar gleichermaßen fasziniert. Die Nazis versuchten mit ihrer SS-Operation "Lebensborn", den von ihnen propagierten Menschentyp durch Zuchtauslese zu erzeugen. Und die DDR-Kommunisten ließen zeitweise untersuchen, ob sich mit Hilfe genetischer Erkenntnisse eine IQ-Elite formen läßt, die dem Arbeiter-und-Bauern-Staat zu ähnlichen Erfolgen hätte verhelfen können wie die Doping-Monster unter seinen Spitzensportlern. Zu diesem Zweck analysierte der DDR-Humangenetiker Volkmar Weiss mit Sondergenehmigung von Kultusministerin Margot Honecker Ende der sechziger Jahre die Daten von 1329 Hochbegabten und von 20.000 Blutsverwandten. Als Weiss die Ergebnisse seiner geheimen Forschungen vorlegte, wurde er kaltgestellt. Denn seine These von der "großen Dominanz der Gene" (Weiss: "Kinder von Hochbegabten haben Nachwuchs mit einem hohen IQ") erschütterte zutiefst den sozialistischen Glauben, dass der Mensch ausschliesslich ein Produkt seiner Umwelt sei. Nach dem Niedergang der DDR übernahm Weiss - wie das Leben so spielt - die Deutsche Zentralstelle für Genealogie in Leipzig. Die Einrichtung, die dem sächsischen Innenministerium untersteht, ist die Nachfolgerin des DDR-Amtes, deren Vorgängerin wiederum Hitlers Reichssippenamt war. Ein Leipziger Sippenforscher bricht "mit den Tabus der politischen Korrektheit" Im obskuren Ambiente der Leipziger Dienststelle, in der noch immer Akten aus der NSDAP-Ära lagern, wirkte Weiss weiter an seinem Argumentationsnetz, das, wie er selber stolz gesteht, "mit allen Tabus der politischen Korrektheit bricht" - und das die politische Sprengkraft aufzeigt, die der Genealogie bis auf den heutigen Tag innewohnt. Kernthese des Leipziger Sippenforschers: Weil auch Intelligenz vererbbar ist, Frauen mit hohem IQ aber wegen der Kinderfeindlichkeit der deutschen Gesellschaft immer seltener Mutter werden, würden die Deutschen immer doofer. Und ungesteuerte Immigration, vor allem von kinderreichen Minderbegabten, beschleunige den fatalen Trend noch. Im Web hat die Debatte über Rassismus und Ethik in der Genealogie begonnen Purer Rassismus oder bittere Wahrheit - die Debatte über die Weiss-Thesen, mittlerweile auch Thema eines Buches mit dem Titel "Die IQ-Falle", hat bereits die Chat-Räume und Websites der Hobby-Genealogen erreicht. Das Magazin "Computergenealogie" kommentierte die IQ-Debatte, das Buch fordere jeden dazu heraus, "die selbstkritische Frage nach dem Selbstverständnis seines Hobby" zu stellen und über eine "ethische Grenzziehung bei den Themen Vererbung und Konsequenzen der Gentechnologie" nachzudenken. Nicht minder gespenstisch als die IQ-Spekulationen mutet eine Vision an, die der US-Molekularbiologe Lee M. Silver auf dem Potsdamer Kongress vortrug. So wie sich DNS-Sequenzdaten heute per Internet versenden lassen, könnten genetische Informationsstränge eines Tages quer durchs All etwa gebeamt werden, etwa zum Mars. Dann wäre dort das schier Unfaßbare möglich: Menschenzucht fernab vom Menschenstern, in Abwesenheit von Vater und Mutter. |